Steht der Fels in der Brandung? Große Aufgaben warten auf Schweizerinnen und Schweizer

Anlässlich des Bundesfeiertags besuchte Ulrich Tilgner am 1. August 2017 Schaffhausen und hielt die offizielle Festansprache.

Guten Morgen meine Damen und Herren!

Vielen Dank für die Einladung. Herr Schilling – Ihnen zudem Dank für die Worte, die ich sehr schätze. Ich freue mich ausserordentlich – ja ich bin stolz –  am 1. August hier in Schaffhausen auf dem Fronplatz sprechen zu dürfen. Denn schliesslich ist die Schweiz wohl nicht nur für mich ein ganz besonderes Land, weil hier Demokratie und Neutralität verbunden werden sollen. Werte, die ich für zentral halte und deren Bedeutung es wert ist, hochgehalten zu werden. Die grosse Bedeutung von Neutralität und Demokratie ist mir bei der Arbeit im Orient immer deutlicher geworden.

Aber es gibt für mich auch einen ganz persönlichen Bezug zur Schweiz: ich bin der Schweiz – oder genauer gesagt dem Schweizer Fernsehen – dankbar, dass ich 2008 beschäftigt wurde, als ich nicht mehr für das ZDF arbeiten wollte. Dazu nur wenige Worte, weil meine persönlichen Erfahrungen auch ein Stück weit das deutsch-schweizer Verhältnis beleuchten. Ich wollte aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr für das ZDF arbeiten, das Fernsehen in Leutschenbach nahm mich. Dafür auch hier Dank an den damaligen Chefredakteur, Ueli Haldimann. Anschließend musste ich in deutschen Zeitungen verschiedene Unwahrheiten lesen: Ich sei gegangen, weil das ZDF eine Kollegin eingestellt habe. In Wirklichkeit wurde sie eingestellt, weil ich gekündigt hatte. Im Übrigen hat die Kollegin dem ZDF nach sechs Monaten wieder den Rücken gekehrt.

Dann hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ich sei aus finanziellen Gründen in die Schweiz gegangen, andere kann es aus deutscher Sicht auch nicht geben – als ob hier in der Schweiz Geld auf Bäumen wächst. Diese Version musste herhalten, weil ich einen Arbeitgeber in Mainz verlassen und in Zürich anheuert hatte, dafür darf es ja nur einen finanziellen Grund geben. In Deutschland denkt man eben, in der Schweiz könne man ein Vermögen machen.

Leider stimmt das in meinem Fall nicht – wie es auch für viele Barkeeper oder Hotelmitarbeiter in den Alpen nicht stimmen dürfte. Meine Versuche, das ZDF zu bewegen, eine Gegendarstellung zu veröffentlichen, verliefen im Sande. Die Zeitung in Frankfurt behauptete, ihre Erkenntnisse zu haben. Meine Steuererklärungen beweisen etwas anderes. Das SRF zahlte gerade ein Drittel des ZDF-Gehaltes.

Wer jetzt denkt, dies sei ein Bespiel für Fak News, den muss ich enttäuschen. Für mich handelt es sich um einen klassischen Fehler in der Berichterstattung, selbst wenn ich in meinem Falle auch einen gewissen Vorsatz sehe. Wer von Lügenpresse spricht, meint Zeitungen wollten Menschen systematisch und vorsätzlich irreführen. Doch in Medien wird selten gelogen. Sie berichten oberflächlich – das werfe ich ihnen vor. Und diese Oberflächlichkeit nimmt zu. Immer mehr vom gleichen. Feindbilder werden geschaffen. Man arbeitet sich bis zur Bewusstlosigkeit an bestimmten Problemen ab, allerdings ohne im eigenen Haus in ähnlicher Weise kritisch zu sein. Erdogan oder Putin hin oder her, beide sind schlimme Finger. Doch das wissen wir. Warum soll dies in den Medien jeden Tag aufs Neue bewiesen werden. Meiner Meinung nach auch, um Missstände im eigenen Land in den Hintergrund zu drängen, weil sie unbequeme Tatsachen sind, weil sie uns direkt betreffen würden. Es wird das Gefühl genährt, wenn wir zeigen, wie schlecht es in der Ferne ist, muss es bei uns ja gut sein. Das ist ja richtig, das wissen wir, aber das darf doch nicht dazu dienen, Probleme zu Hause systematisch zu übersehen.

Wer denkt, ich verwechselte die Schweiz mit einem Paradies, weil ich hier so freundlich aufgenommen wurde – persönlich und beruflich – der wird später erfahren, wo mich der Schuh im Zusammenhang mit der Schweiz drückt.

Zurück zu Demokratie und Neutralität im Mittleren Osten. Sie existieren fast ausschliesslich als Lippenbekenntnisse in Reden von Politikern, deren Untertanen dies hassen. Ja sie hören richtig: Die Mehrheit der Menschen im Morgenland hassen Lippenbekenntnisse und Politiker. Mir scheint, dass das Gefühl der Ablehnung von Politikern und Lippenbekenntnissen nicht auf den Orient begrenzt ist. Es wächst weltweit und nicht ohne Grund. Die in den hohen Staatsetagen Beschäftigten haben weltweit ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Zurück zu Demokratie und Neutralität: Diese Werte gilt es auch in der Schweiz mehr denn je zu verteidigen und vor allem was die Demokratie betrifft. Sie gilt es, am Leben zu erhalten und mit Leben zu erfüllen. Diese Aufgaben sind in einer immer komplexer werdenden Welt nicht einfach. Doch auch dazu später mehr.

Beginnen möchte ich mit dem Ableben des Islamischen Staates. Ja sie haben richtig gehört, der Islamische Staat ist dabei, zu zerfallen. Das ist die gute Nachricht dieser Tage. Die Organisation hat die von ihr kontrollierten Regionen weitgehend verloren und befindet sich auf dem Rückmarsch. Doch die Schwächung der Organisation in Irak und Syrien ist keine Entwarnung für Europa, denn die Organisation verlagert ihre Arbeit in andere Regionen und die überlebenden Kader d­er Organisation werden in den Untergrund gehen, wenn Sie nicht in andere Teile der Welt ausweichen, und versuchen, aus diesem Untergrund weitere Terroraktionen zu organisieren. Die aus Zentralasien stammenden Terroristen werden versuchen, sich vor allem nach Afghanistan durchzuschlagen.

Einigen der überlebenden Aktivisten wird die Rückkehr nach Europa gelingen. Das bedeutet natürlich auch für die Schweiz eine erhöhte Terrorgefahr. Doch für Sie, die Sie hier versammelt sind, sehe ich keine Probleme. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass es einen Anschlag in der Schweiz geben wird, ist gering – hier in Schaffhausen sehr unwahrscheinlich.

Dazu meine Überlegungen: Knapp 90 Terrorbereite sind in den vergangenen Jahren aus der Schweiz nach Syrien oder in den Irak gereist. Mindestens die Hälfte von Ihnen wurde getötet. Mindestens die Hälfte der Überlebenden haben eingesehen, dass sie sich auf einen Irrweg begeben haben. Bleiben höchstens zwanzig. Von diesen dürften die Schweizer Sicherheitsdienste etwa die Hälfte abfangen oder auf andere Weise neutralisieren. Also gehe ich von maximal fünf zu einem Terroranschlag Entschlossenen aus. Und diese werden sich genau überlegen, ob sie Ihren Weg fortsetzen wollen. Denn in der Schweiz haben sie viel zu verlieren, da sie nicht in ein Elend der Vorstädte – wie in die Banlieues von Paris – zurückkehren, sondern für gute Arbeit gut bezahlt werden, wenn sie sich bemühen.

Die Aufgabe der Gesellschaft besteht darin, ein Maximum an Integration zu bieten. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann seinen Beitrag hierzu leisten. Eine Einstellung, ein Mietvertrag, ein freundliches Gespräch kann dazu beitragen, Terror zu verhindern. Ich sehe für die Zukunft im Zusammenhang mit den IS Rückkehrern und auch Flüchtlingen aus den Reihen des IS nur einen Anschlag in der Schweiz. Und dann gilt es, kühlen Kopf zu bewahren. Für mich wäre solch ein fürchterliches Ereignis kein Grund zur Panik, sondern auch ein Ergebnis der politischen Entwicklungen und der unterschiedlichsten Fehler in den vergangenen Jahren:

Hillary Clinton, die ehemalige US-Assenministerin und zuvor für immerhin acht Jahre First Lady der USA, hat mehrfach ausgeführt, dass die Entstehung von AlKaida direkt auf das Eingreifen der USA in Afghanistan in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zurückzuführen ist und Barack Obama, bis zum Januar Präsident der USA, sieht die Entstehung des IS auch als Ergebnis des Irak-Krieges.

Für mich ist die Zunahme der Militarisierung der Politik nicht das Ergebnis des Terrorismus, sondern der Terrorismus ist das Ergebnis der Militarisierung der Politik in den vergangenen Jahrzehnten. Denn die Staaten des Westens haben den Mittleren Osten mit Krieg überzogen, an Kriegsparteien Waffen geliefert und ziehen sich jetzt aus einer bereits im Zeitalter des Kolonialismus gebeutelten Region zurück und lassen sie im Chaos zurück.

In Syrien, Irak, Libyen und Jemen herrscht heute Krieg. Im Jemen sterben Menschen in Elend an Krankheiten und Hunger nahezu unbeobachtet und weitgehend ohne internationale Hilfe. Die USA führen dort einen Krieg gegen den Terrorismus, Saudi-Arabien bekämpft die Huthis aus der Luft und unterstützt einen aus dem Land geflohenen Staatspräsidenten. Im Land tobt zudem ein Bürgerkrieg. Die Menschen können gar nicht mehr fliehen, weil Saudi-Arabien sie nicht durchlässt.

Terror und westliche Politik sind untrennbar miteinander verbunden. Mit ihrer jahrzehntelang falschen Politik haben die Staaten des Westens antidemokratische und archaische Kräfte freigesetzt und mobilisiert. Flüchtlinge aus dieser Krisenregion fliehen vor Krieg, Elend und Terror. Es sind nicht Terroristen, die fliehen, sondern Menschen, die auch vor dem Terror fliehen.

Heute wird Saudi-Arabien vor allem von den USA – aber eben nicht nur von den USA, sondern auch von den Staaten Westeuropas, zu einer starken Regional-Macht in der Region des Persischen Golfes ausgebaut. Saudi-Arabien ist das Land, das seinen wahabitischen Islam – auch oft als Salafismus bezeichnet – exportiert hat. Dieser Export wurde mit Petrodollar bezahlt.

Wer heute behauptet, nichts davon zu wissen, führt Menschen in die Irre. Eine Nebenbemerkung: Die Attentäter des 11. Septembers waren Bürger Ägyptens oder Saudi-Arabiens. Gegen wen wurde dann Krieg geführt – gegen Afghanistan. Nennen Sie mir bitte einen Afghanen, der einen Terroranschlag in einem westlichen Land begangen hat. Im von den USA mit Geld, Material und Ausbildern unterstützten Krieg der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts starben in Afghanistan etwa eine Million Menschen im Krieg gegen die Truppen der Roten Armee. In diesen Jahren gab es kein Selbstmordattentat. Erst danach entwickelten Terroristen diese Art der Kriegsführung.

Meiner Meinung nach verstärkt die Militarisierung der Politik den Terrorismus und auch der sogenannte Kampf gegen den Terror wird in nur in Ausnahmefällen und nur an wenigen Stellen zum Erfolg führen. Terror kann meiner Meinung nach militärisch nicht besiegen.

Im Zusammenhang mit dem Terror und der Militarisierung der Politik möchte ich auf zwei in diesen Zusammenhängen extrem gefährliche Tendenzen hinweisen:

–          Bisher hatten Terroristen Zulauf in Gebieten, in denen von der Globalisierung nur sehr wenig zu spüren war. In der Regel sind dies die Regionen im Mittleren Osten, die bis heute durch überbrachte Stammesstrukturen geprägt sind. Dort existiert eine Kultur, die sich seit vielen Jahrhunderten entwickelt hat.

Armut gepaart mit extremem Obrigkeitsdenken und Gruppenkultur bilden dort den Boden für die Bereitschaft, sich Organisationen wie AlKaida oder dem IS anzuschließen. Dabei bleibt das Individuum nicht nur rechtlos, sondern ist Willkür ausgesetzt. Blutrache – also die Bestrafung eines Mitglieds der Gruppe, aus der die Täterin oder der Täter stammt und nicht die Bestrafung der für eine Tat Verantwortlichen wird in Regionen, in denen sich Terrororganisationen festsetzen können, noch praktiziert. Das hat mit dem auf jüdischer, christlicher oder islamischer Tradition begründeten Strafrecht nichts zu tun.

Wo sehe ich die Gefahr?:

Sie besteht darin, dass Terroristen künftig unter den Verarmten und Hoffnungslosen der Slums in den Grossstädten armer Staaten- also vor allem in Afrika – oder in den Slums europäischer Grossstädte erfolgreich rekrutieren können. Es gibt bereits Beispiele in Frankreich und Grossbritannien. In Frankreich will Staatspräsident Macron das Problem beseitigen, zumindest in den Banlieues, also den verslumten Vorstädten von Paris, in denen Ausländer verarmen und von der Entwicklung abgehängt werden. Hoffentlich gelingt ihm das.

–          Ich bin Ihnen die Beschreibung der zweiten von mir als gefährlich gesehenen Tendenz schuldig: Diese führt auch nach Europa.

Es handelt sich um die Entpolitisierung und die Militarisierung staatlicher Politik, bei der Bürgerrechte abgebaut und von repressivem Vorgehen überlagert werden. Sie haben mit Trump, Erdogan, Urban und Kaczynski Politiker, die eine derartige Politik verkörpern, doch meiner Meinung nach verkörpern sie einen weltweiten Trend, den es auch in den Demokratien westlicher Staaten zu stoppen gilt. Versuche, politische Konflikte mit dem Einsatz von Gewalt zu lösen, werden nicht funktionieren, sondern zu diktatorischen und autoritären Regimen führen.

Dass der Einsatz von Gewalt zu nichts führt, haben die Kriege im Mittleren Osten gelehrt. Wieso glauben Politiker eigentlich, innenpolitische Probleme mit dem Einsatz von Gewalt lösen zu können.

Die Ereignisse um den G-20 Gipfel in Hamburg vor drei Wochen sollten ein Lehrstück sein: „«Das präventive Draufschlagen funktioniert einfach nicht» Ein Soziologe und Protestforscher kritisiert die Hamburger Polizei harsch und erklärt, wie die Lage beim G-20-Gipfel so eskalieren konnte.“ So lauten die Überschrift und der Untertitel für ein vom Tagesanzeiger in Zürich veröffentlichtes Interview. Wenn sie es laden wollen geben sie ein: http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/standard/Die-Strategie-der-Polizei-ist-kolossal-gescheitert/story/27088586

In Hamburg sind angemeldete Demonstrationen schon wiederholt gewaltsam aufgelöst worden. Die Ergebnisse waren auch gewaltsame Ausschreitungen. In anschliessenden Gerichtsentscheidungen wurden polizeiliches Vorgehen für rechtswidrig erklärt. Doch Änderungen gibt es bis heute nicht. Ein Einsatzleiter wurde sogar befördert, obwohl das von ihm zu verantwortende Vorgehen von Gerichten für rechtswidrig erklärt worden war.

Viele Politiker sehen Staat und Gesellschaft als Wirtschaftsunternehmen, die sich selbst genügen sollen und in denen die Bürgerinnen und Bürger wie Zahnräder in einem Räderwerk zu funktionieren haben. Minderheiten, die sich diesem Verfahren widersetzen, werden ausgegrenzt und ihnen werden die Bürgerrechte abgesprochen. Derartige Politiker beanspruchen die Macht, zu entscheiden, wie Individuen zu funktionieren haben.

So war Hamburg tagelang im Ausnahmezustand, weil auch weit von den Konferenzorten abgelegene Stadtteile abgesperrt wurden. Dies sollte dem Ziel dienen, freie Fahrt für die Kolonnen der Konferenzteilnehmer zu schaffen. Bürger standen über Stunden in Staus. Busse fuhren nicht mehr – ein Ausnahmezustand, der in den Augen der meisten der Betroffenen mit Gewaltaktionen von Gipfelgegnern oder Mitläufern nichts zu tun hatte. Offiziell hiess es vorher: Die Bürgerinnen und Bürger würden von dem Politikertreffen nichts merken. Eine Lüge: In einem später bekanntgewordenen Papier las sich dies anders. Der Schutz der angereisten Delegationen habe Vorrang. Eindeutiger kann man nicht ausdrücken, dass Bürger zur Kulisse werden sollen.

Allmächtig werdende Staaten entziehen sich mehr und mehr der Kritik der Bürger. Die Tendenz ist beängstigend. Ich möchte aus einer Rede des gescheiterten demokratischen Päsidentschaftsbewerbers Bernie Sanders zitieren. Der Senator des US-Bundesstaates Vermont sagte am 31. Mai also vor nicht einmal neun Wochen in Berlin: Zitat

„Mit Präsident Trump hingegen sehen wir einen Mann, der immer wieder eklatante Lügen erzählt und empörende Behauptungen aufstellt, die nicht von Tatsachen gestützt werden. Zu diesen Lügen gehört eine, die er nicht ohne Grund erzählt hat: Vor ein paar Monaten sagte er, bei der Präsidentschaftswahl hätten zwischen drei und fünf Millionen Menschen illegal abgestimmt. Nun, es stellte sich heraus, dass kein Wahlvorsteher in den Vereinigten Staaten, sei er Demokrat, sei er Republikaner, daran glaubt. Warum sagte Trump es dann? Er tat es, weil er die aktuellen Versuche in vielen republikanisch dominierten Staaten unterstützt, mit denen die Wahlteilnahme von Armen, People of Color und Alten erschwert werden soll. Wer gegen ihn stimmen könnte, soll möglichst nicht wählen können.“ Zitat Ende

Soweit Sanders. Sein Appell in Berlin lautete: »Stehen Sie nicht abseits: Demokratie ist kein Zuschauersport!« Natürlich müssen sich Bürgerinnen und Bürger einmischen.

In der Schweiz existieren mit Elemente der direkten Demokratie Mittel sich in die grosse Politik direkt einzumischen. Hier existiert die Tradition, dass die Behörden den Menschen dienen sollen und nicht umgekehrt. Diese Elemente der Alltagspolitik gilt es zu verteidigen und auszubauen. Einige von ihnen empfinden es als Ärgernis, dass es im Kanton Schaffhausen Geldbussen für diejenigen gibt, die nicht an Volksabstimmungen teilnehmen. Ich wäre froh, wenn es in Deutschland Volksabstimmungen mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie in der Schweiz geben würde.

Noch zeichnen sich die Schweizer Bürgerinnen und Bürger durch ein hohes Poblembewusstsein aus. Sie mögen sich desssen nicht bewusst sein, doch das Problembewusstsein und das politische Verantwortungsgefühl der oder des Einzelnen ist in der Schweiz deutlich höher entwickelt als in anderen Staaten Mitteleuropas. Bitte lassen Sie sich in diesem Punkt durch Kritik von aussen nicht beirren.

Dabei ist das Gefährliche ist nicht die Kritik, die kann man abprallen lassen. In meinen Augen ist das schleichende Gift der Gewohnheit das eigentliche Problem. Als Bürgerinnen und Bürger Mitteleuropas haben wir uns bereits an Privilegien gewöhnt, die auf weltweiten Ungleichgewichten beruhen. Weltoffenheit und abendländische Werte sollten darauf Basieren, dass Gleichheit der Menschen und damit Menschenrechte global akzeptiert und verwirklicht werden. Dies gilt insbesondere in einer Welt, in der die Gräben zwischen arm und reich immer größer werden. Und dies gilt insbesondere in einer Welt, in der die ungleiche Nutzung von Natur und Ressourcen zu Folgen führt, die die Lebensgrundlagen von Menschen zerstören, die für diese Zerstörung keine Verantwortung tragen.

Ein Teil der Klimaveränderungen auf dem Globus sind einer Industrialisierung geschuldet, die bis heute vor allem die Menschen in den hochentwickelten Ländern genutzt haben. In der Sahelzone – also dem Gebiet südlich der Sahara – sind zurzeit etwa sieben Millionen Menschen auch auf Grund der Klimaveränderungen auf der Flucht. Das IKRK plant anders als früher seine Hilfsmassnahmen nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für Menschen, die in den Korridoren wohnen, durch die die Flüchtlinge ziehen.

Und Hilfsaktionen sind im Gegensatz zu früher grundsätzlich nicht mehr auf eine Dauer von wenigen Jahren sondern auf mindestens zehn Jahre angelegt. Diese Katastrophen finden in einem Gebiet statt, das von der Schweiz ähnlich weit entfernt ist wie das Nordkap. Und die absolute Mehrheit dieser Flüchtlinge aus der Sahelzone haben kein Asylanspruch, weil sie nicht vor politischen Katastrophen weglaufen, sondern sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge sind.

Aber das Schlimme, im Kampf gegen die Klimaverschlechterung leisten Politiker in den Industriestaaten oft Lippenbekenntnisse. Massnahmen, die beschlossen werden, sind oftmals halbherzig. Was muss eigentlich noch passieren, dass die Bevölkerung in den hochindustrialisierten Ländern aufwacht und aktiv wird. Es gilt zurückzustecken, denn die Flüchtlinge in der Südsahelzone verlieren auch wegen globaler Klimaveränderungen, die sie nicht zu verantworten haben, ihre Lebensgrundlage und begeben sich auf die Flucht. In dieser Frage ist jeder gefordert – auch Sie. Lassen Sie Politikerinnen und Politikern nicht den Spielraum, der halbherzige Politik möglich macht. Denn wenn Sie nicht nachsetzen, weil Sie nicht selber betroffen sind, müssen Sie sich vor Augen führen, dass Menschen auch wegen dieser Halbherzigkeiten in Not und Elend geraten. Und dann werden diese Opfer nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht einmal anerkannt.

Wenn sich Flüchtlinge in Afrika auf den Weg nach Norden machen, gelangen sie nach größten Mühen an die Südküste des Mittelmeeres. Mit Glück schaffen sie es in eines der Gummi-Boote, in denen eine Mittelmeerüberquerung lebensgefährlich ist. Helfer, die sie vor dem Ertrinken retten, gelten heute als Mitwisser von Schleppern, Politiker in der EU wollen den Freiwilligen, die Menschen retten, die Arbeit erschweren. Ein Welscher und Oberleutnant der Schweizer Armee ist jetzt aktiv, um Flüchtlingen den Weg über das Mittelmeer zu erschweren. Genf produziert eben nicht nur Sozialisten. Ein erstes privates Boot der Aktivisten der Fluchthinderer wurde durch Crowdfunding finanziert. Statt Flüchtlingen die Reise über das Mittelmeer zu erleichtern ird die Flucht erschwert. Ich kann an Sie nur appellieren.

Setzen Sie sich dafür ein, dass die Genfer Flüchtlingskonvention den heutigen Verhältnissen angepasst wird. Legen Sie Bewegungen das Handwerk, die Flüchtlinge abhalten wollen. Die lebensgefährliche Passage über das Mittelmeer ist nicht der Anfang sondern in den allermeisten Fällen das Ende einer Monate oder jahrelangen Flucht.

Bei aller Bewunderung des Papstes für dessen Eintreten für Flüchtlinge und der Bewunderung für seine Kritik an der globalen Wirtschaftsentwicklung, es wird Zeit, dass die katholisch Kirche ihre Ablehnung der Verhütung überdenkt und dass der Papst in dieser Frage ein Umdenken anstößt. Schätzungen gehen davon aus, dass die Bevölkerung Afrikas wird bis zum Ende des Jahrhunderts um 2100 Millionen Menschen wächst. Sie haben richtig gehört: Die Schätzungen in den USA gehen davon aus, dass die Zahl der Menschen in Afrika bis zum Ende des Jahrhunderts um das etwa 250 fache der heutigen Schweizer Bevölkerung zunehmen wird. Man kann nicht einen Kontinent in der Zeit des Kolonialismus zerstören, in später – also bis heute – vor allem als Rohstofflieferanten sehen und die Menschen dann davon abhalten, wenn sie auswandern wollen.

Seit der zweiten Hälfte des 16 Jahrhunderts bis Ende des 19 Jahrhunderts hat es in der Schweiz eine Auswanderungswelle gegeben. 1888 wurde sogar ein eidgenössisches Auswanderungsamt gebildet. Wer hat nicht Verwandte in den USA, die er gar nicht kennt. Auf manchem Familientreffen würde englisch gesprochen werden, wenn Einladungen weltweit an alle Clan-Mitglieder verschickt würden. Im 19. Jahrhundert dürften etwa eine Millionen Menschen die Schweiz verlassen haben bei einer Bevölkerung von höchsten drei Millionen. Noch heute wandern 100 000 Schweizerinnen oder Schweizer jährlich aus.

Heute ist die Schweiz ein Zuwanderungsland. Oft sind es politische Flüchtlinge, die aufgenommen werden und es sind Menschen, die von der Schweizer Wirtschaft benötigt werden. Bitte bedenken Sie – welche Hürden heute zu nehmen sind, wenn sie einwandern wollen, – dass Schweizer im 19 Jahrhundert nicht einmal einen Pass geschweige denn ein Visum benötigten, wenn sie sich auf den Weg über den Atlantik nach Amerika gemacht haben. Bitte erinnern Sie sich auch, wie während des Ost-Westkonfliktes Flüchtlinge gefeiert wurden, denen die Flucht aus der DDR in die damalige Bundesrepublik Deutschland gelang. Die Helfer der Flüchtlinge, die oftmals Geld verlangten, waren vor 30 Jahren geachtet und wurden wegen ihrer Fluchthilfe als Helden gefeiert. Heute werden sie Kriminelle und Schlepper genannt, und man schickt Soldaten, um sie an ihrer Arbeit zu hindern.

Nicht die Änderung ihrer Bewertung halte ich für das Aufregende, sondern die Rolle, die ihnen zugeschrieben wird: Als ob die Schlepper für die hohe Zahl der Flüchtlinge die Verantwortung trügen. Sind es doch die Verhältnisse, die zu dem historisch höchsten Stand der Flüchtlinge geführt haben. 65 Millionen sind derzeit nach den Angaben von UNHCR, der Flüchtlingshilfsorganisation der Vereinten Nationen auf der Flucht. Im Kern handelt es sich um die politischen Flüchtlinge. Warum wurde die International Organisation for Migration (IMO) im vergangenen Jahr als UN-Organisation aufgenommen. Früher war diese Organisation NATO-nah, ihr Hauptquartier befand sich in Brüssel. Für mich besteht der Verdacht, dass die Zahl der Flüchtlinge vernebelt werden soll. –

Die IMO kümmert sich verstärkt um Binnenflüchtlinge und Flüchtlinge, die Grenzen überschreiten, wenn sie sich aus sogenannten wirtschaftlichen Gründen auf den Weg machen. Dann werden sie von der UN-Organisation UNHCR gar nicht mehr als Flüchtlinge erfasst. Auch Menschen, die jahrzehnte in Flüchtlingslagern gelebt haben, deren Aufenthalt dort nicht dokumentiert worden ist, werden von der IOM betreut und nicht vom UNHCR.

Liebe Anwesende, es ist Zeit, die Wirklichkeit ehrlich zu betrachten und nicht nur die Miseren zu beklagen, sondern auch Konsequenzen zu ziehen. Ein globales Umdenken ist erforderlich. Es macht keinen Sinn, dass Sie sich allein dafür einsetzen, dass einem Teil der 2100 Millionen Afrikanern die Tore in die Schweiz geöffnet werden. Sicherlich macht es Sinn, sich für eine moderne Einwanderungspolitik stark zu machen, die nicht durch die Interessen wirtschaftlicher Stärke geprägt ist, sondern durch globale Verantwortung und menschliche Nächstenliebe. Doch das wichtigste: Die Schweiz ist gefordert, darauf hinzuwirken, dass internationale Strukturen entstehen, damit die globalen Probleme bewältigt werden können.

Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die Vereinten Nationen gegründet, als Lehre aus den beiden Weltkriegen sollten die Vereinten Nationen gemäß ihrer Charta für die Sicherung des Weltfriedens, die Einhaltung des Völkerrechts, der Schutz der Menschenrechte und die Förderung der internationalen Zusammenarbeit eintreten. Dazu ist es nicht gekommen. Aus der Rückschau wird deutlich, die Vereinten Nationen wurden nicht gestärkt und zu einer globalen Ordnungsmacht entwickelt. Sie führen heute eine Schattenexistenz – der Weltsicherheitsrat wird von den grossen Mächten kontrolliert und ist blockiert.

War es bis 1990 der Ost-West-Konflikt, der die Entwicklung blockierte, so waren es in den vergangenen Jahren vor allem die westlichen Staaten, die keine Anstrengungen unternahmen, die Vereinten Nationen zu einer Art Weltregierung zu entwickeln. Die Vereinten Nationen wurden nicht zu einem Zentrum entwickelt, in dem die Probleme der Welt gelöst werden. Das sind Aufgaben in der grossen Politik. Aber sie können nur gelöst werden, wenn die Politiker gewählt werden, die für globale Veränderungen eintreten und diese Änderungen nicht nur in Sonntagsreden einfordern.

Leider kann ich wenig Konstruktives sagen, wie sich das Elend der Welt verbessern lassen lässt. Von staatlicher Entwicklungspolitik halte ich wenig. Milliarden wurden ausgegeben, ohne dass die Auswirkungen nachhaltig waren, da viel Geld in gescheiterten Projekten verloren gegangen oder in den Kanälen der Korruption verschwunden ist. Ich sehe ein Problem der Entwicklungspolitik. Helfen kann man am besten im Kleinen. Ich kann Ihnen die Afghanistanstiftung Schaffhausen ans Herz legen. Deren Gründerin Vreni Frauenfelder sitzt dort vorne. Sie hat hier am 1. August 2014 gesprochen. Aber das Wichtigste: Sie hat etwas Sinnvolles und Beispielhaftes geschaffen.

Änderungen im kleinen kann jeder erreichen. Änderungen im grossen Stil kann nur die private Wirtschaft bewirken. Das wird in China und auch in Indien deutlich. Doch in Afrika ist vor Ort kaum Geld zu verdienen. Die ökonomische Entwicklung hält nicht Schritt mit der Bevölkerungsexplosion. Ich befürchte, ohne einen gewaltigen Wertetransfer wird es keine Änderungen geben.

Statt eines Einkommenstransfers von den Armen zu den Reichen muss es zu einem Transfer des Wohlstandes von den reichen Staaten in die Staaten der Armen kommen. Diese globale Aufgabe ist eine AUFGABE DER HOHEN POLITIK. Sie müssen und sie können dazu beitragen, die Weichen in die richtige Richtung stellen. Für einen derartig allgemeinen Appell zum Ende meiner Ausführungen möchte ich mich entschuldigen. Doch ich halte ihn für besser als Worte der Allgemeinen Beruhigung, da wir nun einmal in stürmischen Zeiten leben.

Vielen Dank