Vor fünf Jahren marschierten die US-Soldaten im Irak ein. Der durch seine differenzierte Kriegsberichterstattung bekannt gewordene Nahhost-Experte Ulrich Tilgner über ein Land im Aufbruch, sein Leben als Kriegsreporter, die Minarett-Initiative in der Schweiz und seinen Abschied vom ZDF.
Der Irakkrieg jährt sich im März zum fünften Mal. Einige Medien – und nicht nur amerikanische – sprechen unterdessen von einer erfolgreichen Mission. Wie beurteilen Sie die Lage im Land, Ulrich Tilgner?
Es ist heute sicherlich sehr viel ruhiger als früher, aber von Erfolg zu sprechen, ist zynisch. Drei Millionen Iraker – gut zehn Prozent der Bevölkerung – sind geflohen, 150 000 Menschen wurden ermordet. In Bagdad hat nahezu jede Familie Verwandte verloren. Wenn man da von Erfolg spricht, weiss ich nicht, was dann ein Misserfolg wäre. Dazu kommt, dass der Irak nur so von Waffen strotzt: 167 000 US-Soldaten, 300 000 irakische Polizisten und Soldaten, 130 000 – oft ausländische – private Sicherheitskräfte, 200 000 irakische Milizen. Wo ist da der Erfolg, wenn ein Land von einer dreiviertel Million Bewaffneter «befriedet» wird?
Der irakische Staat besteht faktisch aus drei Teilen, den kurdischen Hoheitsgebieten im Nordosten, der schiitischen Region im Süden und den sunnitischen Gebieten im Westen. Wie stabil ist ein solches Konstrukt?
Im Irak gibt es die alte Tradition des zentralen Staates, und die wird jetzt gerade wieder spürbar. Gefährdet wäre diese Einheit dann, wenn die Kurden die direkte Gewalt über die Ölfelder von Kirkuk erhalten würden. Heute werden 17 Prozent der landesweiten Öleinnahmen den Kurden ausbezahlt, die Ölfelder selber kontrolliert jedoch die Zentralregierung. Würde sie dieses Pfand aus der Hand geben – und darum wird zurzeit im Hintergrund gerungen –, dann wäre die Voraussetzung für einen unabhängigen Kurdenstaat geschaffen und der Zerfall des Iraks besiegelt. Deshalb interveniert ja auch die Türkei, die Angst vor den Unabhängigkeitsbestrebungen der eigenen Kurden hat.
Der irakische Zentralstaat funktioniert also so lang, als er über die Ölgelder verfügt?
Genau. Saddam Hussein bekam in den 80er-Jahren in dem Moment Probleme, als er kein Geld mehr hatte, weil der Irak kaum noch Öl exportieren konnte. Der Krieg, den das Land mit dem Iran führte, war zu teuer. Für den Ausbau der Infrastruktur gab es kein Geld, was die Opposition stärkte. Dieses «gesparte» Öl unter der Erde hat unterdessen seinen Wert versechsfacht. Die jetzige Regierung verfügt somit über Milliarden von Petrodollars, und das beruhigt die Situation, weil Ministerpräsident Maliki diese Gelder zum Beispiel unter den Stämmen verteilen kann. Die Sunniten wurden ja weitgehend von den Saudis finanziert, jeder zweite Selbstmordattentäter im Irak war ein saudischer Al-Qaida-Anhänger.
Schliesslich könnten also diese enormen Öleinnahmen das Land befrieden?
George W. Bush wird das im Wahlkampf natürlich nicht so formulieren. Tatsächlich ist es aber sozusagen der Mann an der Zapfsäule, der über die hohen Preise weltweit den irakischen Staat saniert. Der Irak hat für 2008 einen geplanten Haushalt von gewaltigen 48 Milliarden Dollar. Es gibt Ministerien, die im vergangenen Jahr nicht einmal zehn Prozent ihrer für Investitionen bereitgestellten Gelder ausschöpfen konnten, weil die Lage zu unruhig war. Die aktuelle Arbeitslosenquote liegt bei 40 Prozent. Jetzt werden neue Arbeitsplätze geschaffen.
Inwieweit hat der Oberkommandierende der US-Streitmächte, General David H. Petraeus, zur Entspannung beigetragen?
Petraeus’ Verdienst ist, dass er vor zwei Jahren Alarm geschlagen und deutlich gemacht hat, dass die Art von Politik, wie sie die Amerikaner bis dahin praktizierten, nicht funktioniere – und dass er diese Fehler korrigiert hat.
Welche Fehler waren das?
Fehler sind zum Beispiel, wenn Soldaten einfach Häuser stürmen und Türen eintreten, wenn lokale Führer, die kooperationsbereit sind, vor den Kopf gestossen werden. Viele der Beduinenstämme wurden sozusagen in die Arme der Al-Qaida getrieben. Und diesen verhängnisvollen Trend hat Petraeus aufgebrochen. Nicht mit militärischen Aktionen, sondern indem er mit den Leuten geredet hat, auf diplomatischem Weg. Das ist sein grosser Erfolg, und das unterscheidet seine Politik von der vorherigen.
Das Pentagon erwägt, Petraeus im Herbst zum obersten Nato-Befehlshaber zu ernennen. Was hätte sein Abzug aus dem Irak für Konsequenzen?
Vorausgesetzt, die Lage im Irak beruhigt sich weiterhin, keine. Viel folgenschwerer als ein möglicher Abgang Petraeus’ könnte der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen vom kommenden November sein.
Wie ist die Stimmung in Bagdad heute?
Sehr viel entspannter. Noch vor einem Jahr hat mich ein Bekannter sofort ins Hinterzimmer gezerrt, weil er nicht wollte, dass man einen Ausländer in seinem Geschäft sieht. Bei meinem letzten Besuch geht er vor die Tür und ruft seinem Bruder quer über die Strasse zu: Der deutsche Journalist ist da! Die Menschen getrauen sich wieder auf die Strasse, man flaniert, die Teehäuser sind voll. Ich bin vor Weihnachten drei Stunden lang zu Fuss unterwegs gewesen, während ich mich Wochen vorher nur im Auto durch die Stadt bewegen konnte, und das auch nur sehr verdeckt.
Sie lassen sich von Bodyguards begleiten?
Nein, aus Prinzip nicht. Das würde meine Interviewpartner nur abschrecken. An jenem Tag war ich mit einem Arbeitskollegen unterwegs. Und was viel wichtiger war: Bagdads Zentrum versank in einem gewaltigen Verkehrsstau, was potenziellen Entführern die Flucht erschwert hätte.
Es gibt also immer noch Entführungen?
Na klar! Für Ausländer werden immer noch Spitzenpreise erzielt!
Wieso na klar? Sie haben doch gesagt, die Situation habe sich normalisiert?
Normalisiert im Vergleich zu früher. Noch vor ein paar Monaten gab es eine eigentliche Entführungsindustrie der Terrororganisationen, die auf diese Weise ihre Aktionen finanziert haben. Dazu kam, dass selbst Polizeieinheiten in Entführungen verwickelt waren. Wer also ein Entführungsopfer im Keller des Nachbarhauses vermutete, der wäre niemals zur Polizei gegangen. Heute können sich die Bürger wieder an die Polizei wenden. Noch vor ein paar Monaten wurde in den Strassen Bagdads geschossen. Und was sagt mir der Besitzer einer Autolackiererei heute, während ich fassungslos vor der ganzen Zerstörung und Armut in seiner Strasse stehe? «Es geht uns besser, denn es hat keine Toten mehr vor unserer Garage.» Und das ist die Normalisierung – dass keine Toten mehr auf der Strasse liegen und ein Autolackierer wieder arbeiten kann.
Neben den Entführungen haben ja auch immer wieder Selbstmordanschläge für Schlagzeilen gesorgt…
Auch hier hat sich die Situation grundlegend verändert – ich sag jetzt mal bewusst nicht normalisiert. In Bagdad gibt es überall auf den grossen Märkten drei, vier Meter hohe Betonwände als Schutz gegen Autobomben. Jetzt sind die fliegenden Händler wieder vor die Betonwände gekommen. Sie suchen den Schutz dieser Barrieren nicht mehr, doch die Barrieren sind noch da, und nicht nur vor den Marktplätzen: Ganz Bagdad ist voll von diesen Betonsegmenten, Hunderte von Meter aneinandergereiht. Die werden jetzt alle angemalt: Da können sich die Kunststudenten austoben, das wird von der Stadt bezahlt. So finden Sie an der Mauer um das Regierungsviertel wunderschöner Bilder, Graffiti. Darüber will ich demnächst übrigens einen Bericht machen.
Sie berichten vor allem aus Krisengebieten. Was heisst das für Ihre Arbeit?
Das A und O ist eine extrem gute Vorbereitung. Und ich muss mich zu hundert Prozent auf meine Mitarbeiter verlassen können. Ein Fahrer bekommt rund 60 Dollar am Tag. Würde er mich bei Entführern abliefern, könnte er möglicherweise 200 000 Dollar kassieren.
Wie gross ist dieses Risiko?
Obwohl der Krieg die Werte aufgelöst hat, die Brutalität gross ist, gilt das Gastrecht im Irak noch immer. Das heisst aber auch, dass ich wissen muss, wem ich guten Tag sagen soll. Gleichzeitig muss ich mich unbedingt an die Leute vor Ort halten. Kürzlich haben wir in einem Sumpfgebiet gedreht. Nebenan lag ein Dorf, das ich gerne besucht hätte. Unser Fahrer erklärte, das sei nicht möglich, die Strasse sei kaputt, obwohl dort Autos fuhren. Als ich intervenierte, bekam ich von meinem Übersetzer einen Stoss in die Rippen. Unser Fahrer hatte offensichtlich ein Problem mit den Leuten aus diesem Dorf. Und in so einem Fall ist die Strasse dann halt auch für einen neugierigen Journalisten «kaputt», selbst wenn sie gerade neu asphaltiert wurde.
Im vergangenen Jahr sind im Irak rund hundert Journalisten ums Leben gekommen. Wie geht Ihre Familie damit um?
Mein Sohn hat mal in einem Interview gesagt, ich wisse schon, was ich tue. Das war dann auch der Titel des Artikels: «Der weiss schon, was er tut!». Dazu kommt, dass vor allem die Kameraleute gefährdet sind. Während ich, zum Beispiel bei einer Schiesserei, einen kurzen Blick wage und mich anschliessend hinter der nächsten Hausecke verstecken kann, muss der Kameramann direkt draufhalten, und das bei einem durch die Kamera beengten Blickfeld. Die Regel in meinem Job ist einfach: Wer Angst hat, muss sofort aufhören. Denn Angst ist der denkbar schlechteste Begleiter, weil Sie dann anfangen, Fehler zu machen, falsch zu gucken, panisch zu reagieren. Und das kann tödlich sein.
Die Ölgelder befrieden das Land – Das ganze Interview als PDF (344 KB)
Quelle: www.migrosmagazin.ch<