Vielen Dank für die Einladung. Herr Kirschner – Ihnen Dank für die Worte, die ich sehr schätze, sind Sie doch ein Urgestein in diesem schönen Fleck des Planeten. Ich freue mich ausserordentlich – ja ich bin stolz – am 1. August hier sprechen zu dürfen. Denn schliesslich ist die Schweiz ein ganz besonderes Land – sie verbindet Demokratie und Neutralität: Werte, die ich für zentral halte. Die Bedeutung von Neutralität und Demokratie ist mir bei der Arbeit im Orient immer deutlicher geworden. In diesem Teil der Welt existieren Neutralität und Demokratie fast ausschliesslich als Lippenbekenntnisse in den Reden von Politikern, deren Untertanen beide hassen. Ja richtig: Die Mehrheit der Menschen im Morgenland hassen Lippenbekenntnisse und Politiker.
Mir scheint, dass das Gefühl der Ablehnung von Politikern und Lippenbekenntnissen nicht auf den Orient begrenzt ist und weltweit wächst. Demokratie und Neutralität sind Werte, die verteidigt und mit neuem Leben erfüllt werden müssen.
Und diese Aufgaben sind in einer immer komplexer werdenden Welt nicht einfach. Doch dazu später.
Beginnen möchte ich mit den Anschlägen von Oslo und den Morden auf der Insel Utoya.
Als mir meine Frau von den Explosionen vor den Ministerien im Stadtzentrum von Oslo erzählte, war mein erster Gedanke: AL Kaida. Doch als ich von der Ermordung der Jugendlichen erfuhr, hatte ich erhebliche Zweifel, dass ein Mitglied oder mehrere Mitglieder eines Kommandos der Terrororganisation gewütet haben.
Beim Anschlag im April 1995 in Oklahoma im Süden der USA war es ähnlich. Einige von Ihnen mögen sich erinnern: Damals starben 168 Menschen. Auch damals waren die Attentäter, die eine Autobombe vor Regierungsgebäuden im Zentrum Oklahomas zündeten, keine Moslems. Auch damals schockierten die Bilder der Verwüstung die Menschen weltweit. Kurz nach dem Terrorakt gab es Spekulationen, Islamisten hätten den Sprengsatz gebaut und gelegt. Doch der Haupttäter von Oklahoma war ein ehemaliger US-Soldat, ein Veteran des Kuwaitkrieges.
Stellen Sie sich vor, die Täter von Oslo und Oklahoma wären entkommen. Wie würde dann die Berichterstattung über diese Anschläge wohl heute aussehen. Sogenannte Terrorspezialisten würden weiter Klischees über islamistische Täter verbreiten. Haben Sie sich eigentlich schon einmal gefragt, woher die Kriegs- und Terrorverherrlichung bei islamisch motivierten Tätern kommt. Iraker und Afghanen behaupten, aus ihrer Kultur stamme das Selbstmordattentat nicht. Wahrscheinlich sind die japanischen Kamikaze-Krieger tatsächlich eher ein Vorbild. Und wenn Sie Kriegs-Gräuel, Heldenverehrung und Totenkult in der jüngeren Geschichte suchen, dann werden Sie nördlich des Bodensees eher fündig als im Orient.
Die seit Jahren weltweit zunehmenden Vorurteile sind so beunruhigend, weil unser Planet durch die Entwicklung von Tourismus, Transportwesen, Handel und neuen Kommunikationstechniken als immer kleiner erfahren wird und die Kulturen zusammen rücken. Doch während die Welt zusammenwächst, vergrössern sich die Vorurteile zwischen Menschen der unterschiedlichen Kulturen und das Verständnis für Fremdes nimmt ab. Zu dieser Widersprüchlichkeit passt es, wenn die Spannungen zwischen den Gläubigen unterschiedlicher Religionen zunehmen.
Es läuft etwas schief, wenn man heute die andere Seite weniger versteht als noch vor wenigen Jahrzehnten.
Sie denken wahrscheinlich, jetzt übertreibt er gehörig: Nein ich übertreibe nicht. Mein Beispiel: Jahrhunderte haben Juden, Christen und Moslems im Orient relativ friedlich zusammen gelebt. Heute vertiefen sich die Gräben zwischen den Gläubigen dramatisch. Auswanderung und Vertreibung der Juden und der Christen aus den arabischen Ländern und generell aus der islamischen Welt haben historisch beispiellose Formen angenommen. Es zeichnet sich ein Ende der Koexistenz ab, wenn dieser Trend nicht gebrochen wird.
Die Menschen im Orient leisten heute mit ihren Aufständen einen enormen Beitrag, diesen Trend zu brechen. Sie demonstrieren und revoltieren gegen ihre Machthaber und kämpfen für die Erneuerung ihrer Gesellschaften. Meine Damen und Herren, Sie müssen davon ausgehen, dass die Menschen, die sich Polizisten oder Soldaten und den Häschern von verhassten Regimen entgegen stellen, Freiheit meist nur aus Büchern oder aus anderen Ländern kennen. In Tunesien und Ägypten hat es bereits erfolgreiche Umbrüche gegeben, doch bei der Schaffung freiheitlicher und menschenwürdiger Verhältnisse stehen die Menschen erst am Anfang.
Sie haben Ordnungen gestürzt, die vom Westen gepriesen, stabilisiert und immer wieder modernisiert, aber eben nicht reformiert wurden.
Doch in der Protestwelle der arabischen Welt ist die Phase des arabischen Frühlings, nämlich die Zeit der grossen Erfolge wie im Januar und Februar, bereits abgelöst durch eine Phase des Wütens staatlicher Sicherheits- und Militärsysteme. Gaddafi hat diesen Einsatz am 22. Februar – also vor fest einem halben Jahr – als erster arabischer Herrscher angekündigt und ein schnelles Ende ist nicht sichtbar. Schauen Sie nach Libyen, Syrien und in den Jemen.
Mit dem Einsatz äusserster militärischer Macht hat Gaddafi die Erfolgsphase des arabischen Frühlings beendet. Völlig isoliert verstieg sich der libysche Machthaber sogar in die skurrile Behauptung, seine Macht sei durch einen Al Kaida-Aufstand gefährdet. Diese Diffamierung zeigte Wirkung. Grosse Fernsehsender folgten der Einladung des Machthabers von Tripolis Stunden nachdem sein Sohn sie ausgesprochen hatte. Die Networks schickten Journalistinnen und Journalisten, von denen einige Gaddafi auch noch persönlich interviewten. US-Aussenministerin Hillary Clinton machte sich Gedanken darüber, welche Bedeutung Al Kaida in Libyen spiele.
Dabei standen im Zentrum des Aufbegehrens junge Gaddafi-Gegner, die die Gruppe “Revolte des 17. Februars 2011” gründeten. Auch in Libyen waren es Internet-Aufrufe, die die Proteste zu einem Flächenbrand angefacht hatten. Auch dort waren es nicht die alten Polit-Aktivisten der in den Untergrund gedrängten islamischen Oppositionsgruppen, sondern junge Menschen, die anfangs auf die Strasse gingen. Die westlichen Truppen intervenierten erst Wochen später, als Gaddafi mit dem Einsatz brutalster Gewalt seine Gegner an den Rand der Niederlage gebracht hatte.
Wie in Libyen, hat eine weltoffene, religiös und ideologisch nicht uniforme Gruppe junger Oppositioneller den Sturm in der arabischen Welt entfacht, der bis heute mit Ausnahme der ölreichen Staaten auf der arabischen Halbinsel alle Staaten im Mittleren Osten und in Nordafrika erfasst hat. Unterschiedlichste oppositionelle Strömungen kämpfen gegen Diktatoren, seien es Präsidenten oder Monarchen.
Aber die Erfolge blieben bis heute begrenzt, weil die Aufständischen, die Erneuerer meist weitgehend allein stehen. Deshalb gibt es keine schnellen Erfolge. Dem arabischen Frühling folgte politisch ein heisser durstreicher Sommer, dem sich eine politische Dürreperiode anschliessen dürfte, aber die Stürme des Zorns können täglich wieder aufbrechen. Der politischen Zersplitterung der Opposition entsprechen die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme der jeweiligen Länder, in denen die Revolten toben. Zwar ist die Opposition oft nicht stark genug, doch die Probleme wie die Arbeitslosigkeit in der jungen Generation, wie staatliche Willkür und Korruption, entfachen die Aufstände immer wieder aufs Neue und werden auch künftig für Zündstoff sorgen.
Aber selbst der Sturz eines Diktators erweist sich erst als Etappensieg. In Ägypten zwangen Fellachen, Industriearbeiter, schlecht bezahlte Beamte und arbeitslose Akademiker in gemeinsamen Aktionen den Rücktritt Mubaraks. Die aktuelle Frage lautet heute, ob sie sich langfristig einigen können. Die Entwicklung neuer politischer Strukturen wird schwierig, weil die wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht so einfach überwunden werden können.
Kein Zweifel: Protest, Aufstand oder Revolution wuchsen und wachsen auf dem Boden sozialer Probleme. Doch sie entwickeln ihre Dynamik erst, weil soziale Unzufriedenheit und Freiheitsdrang zusammen kommen. Unterentwicklung und autoritäre Strukturen gehen Hand in Hand. In Tunesien, Ägypten, Jemen, Libyen, Syrien waren und sind Armut und Diktatur eng verknüpft.
Doch das ist nicht neu. In Europa gab es vor 163 Jahren Ähnliches. Damals 1848 sprang die Revolte gegen autoritäre Monarchen von Frankreich ausgehend auf Deutschland über und breitete sich in weiten Teilen Europas aus. Doch nach Anfangserfolgen der Oppositionellen setzten sich die Monarchien durch und unterdrückten die Revolutionen. Auch damals spielte eine moderne Technologie eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung der Aufstände: die Telegrafie – eine Art Vorvorläufer des Internetzes. Den Volksversammlungen von 1848 entsprechen die Dauer-Versammlungen auf dem Freiheitsplatz in Kairo oder dem Zeltlager auf dem Perlen-Platz in Manama, der Hauptstadt des Königreichs Bahrain am Persischen Golf.
Wie lange es dauern kann, bis politische Kraftanstrengungen grosse Früchte tragen, zeigt der Schwur auf der Ruetliwiese genau heute vor 720 Jahren. Denn auch in der Schweiz hat die Entwicklung von Freiheit und Demokratie Zeit benötigt. 1291 konnten die Männer, die am Vierwaldstätter See die Hände zum Schwur erhoben, nicht ahnen, dass die Eidgenossenschaft heute 26 Kantone hat. Liebe Gäste aus dem Ausland: Möglicherweise wissen Sie nur, dass in der Schweiz oft abgestimmt wird. Dass die Demokratie in der Alpenrepublik einen anderen Charakter als in den übrigen Staaten Europas hat, wird oft vergessen. Ausserhalb der Schweiz haben Politiker sogar Angst vor der direkten Demokratie, denn Schweizerinnen und Schweizer nehmen mit ihren Abstimmungen direkten Einfluss auf die Politik. Lesen Sie die Leitartikel grosser Kommentatoren in Paris, London und Berlin. Dann spüren Sie die Angst vor dieser Beteiligung des Volkes an politischen Entscheidungen.
Doch genau diese Beteiligung wünschen sich die Bürger und auch die Bürgerinnen in den arabischen und in vielen anderen islamischen Staaten. Nur – sie werden dieses Ziel nicht so schnell, meiner Ansicht nach sogar nicht mehr zu unseren Lebzeiten erreichen. Dennoch wollen die Menschen im Orient genau das, was so schwer zu erreichen ist. Untertanen wollen endlich mündige Bürgerinnen und Bürger werden. Die Menschen von Marokko bis Pakistan haben das Recht, dieses Ziel zu fordern und sie müssen auf ihrem schwierigen Weg unterstützt werden.
Meine Damen und Herren, Sie mögen entgegnen, gerade die Forderung nach Schaffung demokratischer Verhältnisse und die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte stehe doch seit Jahren im Zentrum der Politik westlicher Staaten im Orient. Dies ist nur sehr, sehr begrenzt zutreffend. Die politischen Strukturen der Staaten gerade in der arabischen Welt, gegen die die Bewohner eben dieser Staaten seit neun Monaten revoltieren und demonstrieren, sind historisch durch das Einwirken kolonialer Mächte entscheidend geformt worden. In den vergangenen Jahrzehnten haben die USA und verschiedene Länder Europas auch nicht darauf gedrängt, die autoritären und diktatorischen Strukturen zu verändern. Den Einladungen des Tunesiers Ben Ali und des Ägypters Mubarak sind europäische Politiker bis zum Beginn des Jahres ja sogar noch privat gefolgt. Das war so über Jahre üblich. Leider werden jetzt nur die Politiker kritisiert, deren Besuche in den Weihnachts- und Neujahrsferien 2010/2011 erfolgten. Ihre möglichen Ausreden, Samnaun sei ausgebucht gewesen, zählten nicht.
Zurück zu Schweizer Verhältnissen im Orient. Auch die Vielfältigkeit und damit Unterschiedlichkeit der Oppositionsbewegungen verleiht den Protesten zwar aktuell Dynamik und Durchschlagskraft, sie birgt aber auch den Keim für eine langfristige Schwäche, die eine Stabilisierung der politischen Veränderungen gefährden könnte und angreifbar macht.
Grösser können die Unterschiede der Positionen in der Oppositionsbewegung gar nicht sein. Auf der einen Seite streitet eine junge Generation – meist ohne ideologische Scheuklappen, stark geprägt durch eine globalisierte Internet-Kultur – für Werte wie Gleichheit und Demokratie, also für Ideale, für die auch in Europa und den USA gekämpft wurde. Diese Gruppen junger Aktivisten bilden oft einen Nukleus, weil sie mit ihren modernen Organisations- und Mobilisierungstechniken den traditionellen Protagonisten der Opposition – wie enttäuschten Nationalisten und gut organisierten islamischen Vereinigungen oder Mitgliedern der Stämme, die von der Macht ferngehaltenen wurden, überlegen sind.
Wer hinter diesen weit gefächerten Bündnissen islamistische Drahtzieher vermutet, macht es sich zu einfach und wird Opfer von Vorurteilen, die in den vergangenen Jahren immer stärker genutzt wurden, um autoritäre Strukturen in Nordafrika und im Mittleren Orient zu rechtfertigen. Natürlich behaupten die angegriffenen Despoten dort, gegen Feinde der Demokratie und Islamisten zu kämpfen. Sie nutzen diese Erklärungsmuster, um die innere Opposition zu diskreditieren. Damit lässt sich der Einsatz brutaler Gewalt einfacher rechtfertigen und die Unterstützung westlicher Mächte leichter sichern.
Nur so viel, es war nicht Gaddafi, der als erster Panzer gegen die eigene Bevölkerung einsetzte. Es war der König von Bahrain, der 48 Stunden vor dem Beginn der Massaker in Libyen, seine Soldaten mit schweren Waffen in den Einsatz gegen Oppositionelle schickte. Anmerken möchte ich auch noch, dass dies in einem Land passierte, in dem die fünfte Flotte der US-Marine stationiert ist.
Als die Probleme für die einheimischen Truppen in Bahrain immer grösser wurden, schickte der saudische König Verstärkung. Wie weit Saudi-Arabien gehen wird, um diktatorische und autoritäre Regime im Orient zu unterstützen, hängt auch von Ihnen ab, meine Damen und Herren. Fordern Sie von den von Ihnen gewählten Politikern, die herrschende Kaste in Saudi-Arabien nicht mehr zu unterstützen und sich weiteren Waffenlieferungen an die Despoten auf der arabischen Halbinsel zu widersetzen und dagegen öffentlich aufzutreten.
Der Aufstand in der arabischen Welt musste irgendwann beginnen. Aber warum haben sich die Aufstände gegen die Despoten und Diktatoren der arabischen Welt gerade zu Beginn des Jahres 2011 zum regionalen Flächenbrand entwickelt. Für mich liegt der derzeitige Ausbruch des Unmutes und dieser Mut zum Aufstand jenseits von Armut und Unterdrückung in der Verknüpfung ganz unterschiedlicher zusätzlicher Faktoren begründet, die vom Schwächeln der Hegemonialmacht USA und dem Scheitern deren neokonservativer Politik bis hin zu den kommunikativen Auswirkungen der Globalisierung reichen, von denen die Länder Nordafrikas und des Mittleren Ostens betroffen werden.
Für die Menschen vor Ort bildet auch das Scheitern der ausländischen Interventionen im Irak und in Afghanistan einen Grund, selbst auf die Strasse zu gehen oder gar zu kämpfen. Denn mögen Generäle der US-Streitkräfte, Mitglieder der US-Regierung oder Mitglieder des Kongresses in Washington von Erfolgen in den Kriegen der USA im Mittleren Osten sprechen, die Mehrheit der Betroffenen im Mittleren Osten oder der Menschen in Nordafrika hat gesehen, dass ausländische Soldaten ihnen keinen Frieden, keine Freiheit und keinen Wohlstand bringen. Frieden, Freiheit und Wohlstand gibt es nur für die, die mit den Ausländern zusammen arbeiten. Das sind die bitteren Lehren der Kriege in Afghanistan und dem Irak.
Das für uns Europäer tröstliche, die Menschen im Orient glauben noch weniger, dass Al Kaida-Kommandos mit ihren Terror-Aktionen eine Wende zum Guten einleiten werden. Bin Ladens Leute gelten jungen Arabern nicht mehr als Vorbilder, sondern als Schreckgespenster eines islamischen Kreuzzuges gegen die Moderne – also als Kämpfer gegen das, wonach sich die jungen Polit-Aktivisten in Tunis, Kairo, Amman, Damaskus und auch dem nicht arabischen Teheran sehnen. So habe ich nicht nur Wermutstropfen als Würze für Ihr Weltbild. Meiner Meinung nach kämpft die Al Kaida ums Überleben. Die Tötung Bin Ladens hat die Terrororganisation geschwächt, aber es war die Revolte in der arabischen Welt, die ihr den Nährboden entzogen hat.
Dass es zu nichts führt, im Orient neue Zivilgesellschaften durch Krieg aufzubauen, habe ich versucht, darzulegen. Dass in den Jahren nach dem Einmarsch ausländischer Truppen die Lebenserwartung in Afghanistan gesunken ist, dass sich der Lebensstandard für die Mehrheit der Menschen nur unwesentlich verbessert, obwohl etwa 80 Milliarden US Dollar Hilfsgelder für das Land gezahlt wurden, zeigt das Scheitern der Politik.
Die Erkenntnis der Misswirtschaft im Gefolge einmarschierender ausländischer Truppen, die Information, dass sich mit dem Auftreten ausländischer Soldaten nur die Lebensverhältnisse eines sehr kleinen Teiles der Bevölkerung verbessern, ist in Europa noch nicht genügend verbreitet. In der arabischen Welt weiss dies jede Frau und jeder Mann.
Dort weiss man auch, dass die USA seit 2001 für die Kriege in Irak und Afghanistan zwischen 3000 und 4000 Milliarden – noch einmal 3 bis 4000 Milliarden – US-Dollar ausgegeben haben. Zurzeit beläuft sich der Militärhaushalt der USA auf 687 Milliarden Dollar pro Jahr. Das sind 43 Prozent der weltweiten Militärausgaben. Das ist nicht nur verantwortungslose Verschwendung von Ressourcen, sondern solch ein Mitteleinsatz verstärkt die Bereitschaft, politische Konflikte militärisch zu lösen. Die Spirale von Kriegen und Verschuldung muss durchbrochen werden, die Schuldenkrise der USA und des Westens muss dafür herhalten, wenn sich die Staaten des Westens mit symbolischen Beiträgen am Neuaufbau Ägyptens und Tunesiens beteiligen. Auch da können, ja müssen Sie helfen: Wenn die Hotels im Engadin ausgebucht sind, reisen Sie nach Ägypten und Tunesien. Die Preise dort sind attraktiv und die Menschen benötigen Arbeit. Wenn in Nordafrika die Touristen ausbleiben, ist es ja so als ob die Menschen dort dafür bestraft werden, dass sie ihre Diktatoren verjagt haben.
Da wird bei den Aktivisten der jungen Generation die Bereitschaft wachsen, eine lebensgefährliche Flucht nach Europa zu wagen. Ich kann Sie beruhigen, nur ein kleiner Teil der Menschen möchte in die Schweiz, die bei vielen verhassten USA bleiben ein viel beliebteres Ziel für Auswanderer und Flüchtlinge. Stellen Sie sich vor, die USA sind für viele Araber Feindbild und Wunschland zugleich. Und diese Dualität der Wertung und der Gefühle existiert in einer Zeit, in der die Menschen so viel über die andere Seite wissen oder zumindest wissen können, wie niemals zuvor in der Geschichte.
Menschen ausserhalb Europas sind unterschiedlichen Wertschätzungen ausgesetzt. Als Käufer und Kunden sind sie geliebt – da verschwinden die Unterschiede, die der Wertung von Hautfarbe, Sprache und Religion. Geht es um das menschliche Leben, gibt es sehr wohl Unterschiede. Wenn in Afghanistan bei einem einzigen Angriff westlicher Truppen mehr Zivilisten getötet werden, als in Norwegen vor zehn Tagen, dann werden derartige Ereignisse ganz unterschiedlich berichtet und wahrgenommen.
Diese unterschiedliche Wertschätzung vergiftet die Beziehungen zwischen den Menschen in den verschiedenen Teilen der Welt. US-Präsident Barak Obama hat in seiner Rede zu Afghanistan am 22. Juni mit keinem Wort der durch US-Soldaten getöteten Afghaninnen und Afghanen gedacht, geschweige denn den Tod dieser Zivilisten bedauert. Uns fällt solch eine Ungeheuerlichkeit nicht auf, aber in Afghanistan wächst durch derartige Reden die Ablehnung der USA.
Wir müssen lernen, die andere Seite zu verstehen und dazu gehört eben auch, deren Leid zu erkennen. Politiker sollten wissen, dass sie mit bestimmten Äusserungen zu Hause Sympathie erzeugen können, dass diese Erfolge aber nur möglich sind, wenn sie mit derartigen Auftritten die internationalen Konflikte verschärfen. Das gilt auch und insbesondere für den US-Präsidenten. Es hilft doch nicht, wenn er in der besagten Rede den Abzug von US-Truppen ankündigt, ohne auch nur ein Minimum an Verständnis für die andere Seite aufzubringen.
Heute kann man Wahlkampf auf Kosten anderer Völker nicht mehr ungestraft führen.
In der Afghanistan-Politik wird gelogen, dass sich die Balken biegen – wie es so schön heisst.
Da lobe ich mir die Schweiz: Anfang 2008 wurden die Soldaten aus Afghanistan abgezogen. Es war nicht einmal eine Handvoll Stabsoffiziere entsandt. Zur Begründung hiess es in einer Erklärung des Departments für Verteidigung, die Lage und der Einsatz der Internationalen Schutztruppe ISAF habe sich gegenüber 2003 geändert. Das war der Zeitpunkt, als die Entsendung beschlossen wurde. Und die Erklärung des VBS enthält eine Wertung, die sich in anderen europäischen Staaten meist nur Oppositionspolitiker zu Eigen machen: Die friedenserhaltende Unterstützungsoperation in Afghanistan habe sich im südlichen Teil des Landes schrittweise in eine Operation zur Bekämpfung der Aufständischen gewandelt. Dass möglicherweise innenpolitische Interessen und Konstellationen die Entscheidung von Bundesrat Schmid mit ausgelöst haben, ist hier nicht wichtig. Friedenserhaltender Militäreinsatz und Afghanistan wurden als Widerspruch gesehen.
Das war und ist richtig und wird es auch bleiben. Mögen Politiker anderer Länder dies auch schön reden. Warten Sie einmal ab. Anfang Dezember werden 90 Delegationen mit etwa 1000 Teilnehmer nach Bonn zu einer Afghanistan-Konferenz kommen. Zum zehnten Jahrestag der Konferenz von Petersberg soll die Afghanistan-Politik schön geredet werden. Von Scheitern wird dort nicht geredet werden.
Aber es wird eine Konferenz geplant, auf der eigentlich das Scheitern westlicher Afghanistan-Politik besprochen werden sollte. Zu Ihrer Erinnerung: 2001 hat man alles getan, damit bei der damaligen Petersberger Konferenz keine Vertreter der Taliban teilnehmen. Zehn Jahre später unternimmt man hinter den Kulissen sehr viel, damit die Taliban Vertreter zu einer Konferenz in die gleiche Stadt schicken.
Etwa 80 Milliarden US-Dollar wurden für zivile Hilfe ausgegeben. Aber die Kindersterblichkeit in Afghanistan ist ungebrochen – in einigen Provinzen weiterhin die höchste der Welt. In Regionen fern der Hauptstadt Kabul hungern immer noch Menschen. In Afghanistan herrscht wieder oder wie seit 30 Jahren immer noch Krieg. Die Regierung von Präsident Hamid Karsai ist korrupt. Kein Wunder, wurde er doch – so behaupten viele Afghanen – auf der Petersberger Konferenz in einer manipulierten Abstimmung zum Vorsitzenden der Interimsverwaltung bestimmt. Es gibt keine Gründe, eine positive Bilanz zu ziehen, es sei denn, man zelebriert Selbstbetrug. Traurig, aber wahr: Im Irak und Afghanistan erleben Menschen westliche Kultur als gescheitert – Im Westen spricht man dagegen über Erfolge.
Es ist gut, dass die Schweiz mit dieser Art von Politik von den Menschen im Orient nicht in direkte Verbindung gebracht wird. Doch wissen die Menschen auch nicht, wofür die Schweiz eigentlich eintritt.
Dabei ist die grundsätzliche Meinung über die Schweiz – trotz des Minarett-Verbots – positiv. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass viele die Arbeit des IKRK erlebt haben oder zumindest kennen und schätzen. Und man weiss, dass das IKRK seinen Sitz in der Schweiz hat.
Mit einem Appell an die Schweizerinnen und Schweizer unter Ihnen möchte ich enden. Treten Sie unerschrocken für die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte ein, verhelfen Sie Neutralität zu neuem Glanz.
Und an Sie alle der Appell: Unterstützen sie die Arbeit des IKRK.
Viel Spass in den kommenden Minuten und Stunden. Vergessen Sie nicht zu tanzen, Sie müssen sich dabei ja nicht gleich Arme und Beine ausrenken.
Fremdenverkehrsverband Engadin/Samnaun
1. Augustrede, 2011
Ulrich Tilgner:v